Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) startet am 25. März 2019 gemeinsam mit der europäischen Weltraumorganisation ESA und der amerikanischen Weltraumbehörde NASA mit AGBRESA (Artificial Gravity Bed Rest Study) die erste gemeinsame Langzeit-Bettruhestudie.
Erstmals wird dabei der Einsatz von künstlicher Schwerkraft als mögliche Maßnahme gegen die negativen Effekte der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Organismus untersucht. Sollen Astronauten künftig für lange Zeit im Weltraum oder auf dem Mond und Mars leben, müssen effektive Gegenmaßnahmen gegen Knochen- und Muskelschwund entwickelt werden. Zwei Drittel der Probanden werden daher während der dreimonatigen Studie täglich im Liegen auf der DLR-Kurzarm-Zentrifuge in der luft- und raumfahrtmedizinischen Forschungsanlage :envihab gedreht.
Essen nur im Liegen
„Die astronautische Raumfahrt ist auch in Zukunft wichtig, um Experimente in der Schwerelosigkeit durchzuführen – dafür müssen wir sie für die Astronauten aber auch so sicher wie möglich machen“, sagt Prof. Hansjörg Dittus, DLR-Vorstand für Raumfahrtforschung und -technologie. „Diese Bettruhestudie von DLR, NASA und ESA bietet Raumfahrtforschern aus ganz Europa und den USA die Möglichkeit, zusammenzuarbeiten und gemeinsam ein Maximum an humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zu gewinnen.“
Die jeweils zwölf weiblichen und männlichen Probanden werden 60 Tage in den Betten des :envihab am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln verbringen. Inklusive Eingewöhnungs- und Erholungsphase wird ihr Aufenthalt 89 Tage dauern. Während der Bettruhephase finden sämtliche Aktivitäten wie Experimente, Essen und Freizeitgestaltung im Liegen statt. In ihren Bewegungen sind die Probanden eingeschränkt, sodass sich die Beanspruchung von Muskeln, Sehnen und Skelett reduziert. Da die Betten zum Kopf hin um sechs Grad nach unten geneigt sind, wird die Verlagerung der Körperflüssigkeiten wie bei den Astronauten in Schwerelosigkeit ausgelöst.
Dr. Leticia Vega, stellvertretende Chefwissenschaftlerin für internationale Kooperationen für das Human Research Programme der NASA, erklärt: „Beide Effekte sind vergleichbar mit denen von Astronauten im Weltraum. Zwar werden die Auswirkungen der Schwerelosigkeit primär auf der Internationalen Raumstation erforscht. Je nach Forschungsfrage hat es allerdings Vorteile, einen oder mehrere Aspekte zunächst auf der Erde unter kontrollierten Bedingungen zu simulieren. Später werden die Ergebnisse auf der ISS validiert.“
Das Motto: „For space and Earth“
„In internationaler Kooperation plant die ESA sichere und nachhaltige Langzeitmissionen in die Tiefen des Weltalls. Um dies zu ermöglichen, müssen verschiedene gesundheits- und damit missionsgefährdende Risiken minimiert werden“, ergänzt Dr. Dr. Jennifer Ngo-Anh, Wissenschaftskoordinatorin bei der ESA. „Mit AGBRESA widmen wir uns dem Muskelschwund durch die Schwerelosigkeit. Andere Belastungen wie Weltraumstrahlung, Isolation, räumliche und andere Einschränkungen gehören aber genauso auf unsere Forschungsagenda.“
Die humanphysiologische Forschung in Schwerelosigkeit oder unter simulierten Bedingungen ist nicht nur wichtig für Astronauten zum Erhalt der Gesundheit und Leistungsfähigkeit im All, sondern auch für den Menschen auf der Erde. Raumfahrtmedizin bedeutet deshalb auch Gesundheitsforschung für die Erde in allen Bereichen der Prävention, Diagnostik und Therapie.
Das DLR stellt die Wissenschaftler, Räumlichkeiten, Ärzte sowie das Betreuungs- und Ernährungsteam. „Das :envihab bietet für diese Studie die besten Voraussetzungen: Wir können hier zwölf Probanden gleichzeitig unterbringen, versorgen, untersuchen und eine große Anzahl an Experimenten durchführen“, sagt Prof. Jens Jordan, Leiter des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin. „Neben der Probandenstation befindet sich in direkter Nachbarschaft ein MRT und die DLR-Kurzarm-Humanzentrifuge. Weltweit erstmalig bei einer Langzeit-Bettruhestudie setzen wir mit Fahrten auf einer Zentrifuge künstlich erzeugte Schwerkraft ein, um zu testen, inwieweit sie sich als Präventions- und Gegenmaßnahme zu den physiologischen Veränderungen unter Schwerelosigkeit eignet.“ Dazu wird eine Vielzahl von Experimenten durchgeführt, unter anderem zu Herz-Kreislauf-Funktion, Gleichgewicht, Muskelkraft sowie kognitive Tests und auch invasive Untersuchungen wie Gewebeentnahme aus den Muskeln, Mikrodialyse, Messung der elektrischen Muskelaktivität und regelmäßige Blutabnahmen.
Der Körper baut ab was er nicht braucht
Der menschliche Körper ist auf Effizienz getrimmt. Schließlich war seine Nahrungsversorgung über viele Evolutionsstufen nicht gesichert und so galt es, mit den Kräften hauszuhalten. Die Konsequenz: Alle Funktionen und Ressourcen, die mittel- bis längerfristig wenig oder gar nicht genutzt werden, fährt der Körper spürbar zurück. Der Kraftverlust und Rückgang an Muskelmasse, den Hobbysportler bereits nach einer mehrwöchigen Trainingspause im Ansatz verspüren, kann bei Astronauten auf längeren Weltraummissionen in der Schwerelosigkeit erhebliche Ausmaße annehmen. Ohne Gravitation bilden sich Muskeln und Knochen stark zurück. Körperflüssigkeiten verschieben sich in die obere Körperhälfte und das ganze Herz-Kreislauf-System wird weniger beansprucht und verliert an Leistungsfähigkeit – kurz: Im Vergleich zur Degeneration auf der Erde läuft sie im All wie im Zeitraffer ab.
Bettruhestudien sind in der weltraummedizinischen Forschung der Goldstandard, um auf der Erde die Wirkung von Schwerelosigkeit auf den Körper zu simulieren. Zuletzt sammelten die Kölner Raumfahrtmediziner des DLR 2017 Erfahrungen bei der VaPER-Studie. Die AGBRESA-Studie findet in zwei Kampagnen statt, die ersten Probanden ziehen am 25. März 2019 ein, die zweite Kampagne beginnt Anfang September dieses Jahres. Für die zweite Phase im Herbst suchen die Forscher noch weitere Probanden, insbesondere Teilnehmerinnen. Denn Ziel ist es, Erkenntnisse für alle künftigen Raumfahrer zu gewinnen – Astronautinnen und Astronauten.
Schlafversuchsaufbau auf den Bildern
Kurzarm-Humanzentrifuge in :envihab: Die Kurzarmzentrifuge in :envihab am DLR-Standort Köln bietet Möglichkeiten, körperliches Training zum Erhalt der Fitness bei variablen Schwerkraftbedingungen durchzuführen. Bei AGBRESA wird sie eingesetzt, um zu prüfen, ob sie als Gegenmaßnahme gegen die Negativeffekte der Schwerelosigkeit eingesetzt werden kann.
Das Kopfende der Betten ist um sechs Grad nach unten geneigt: Die leichte Schräglage der Probandenbetten gewährleistet, dass sich die Körperflüssigkeiten – wie auch bei den Astronauten in Schwerelosigkeit – Richtung Kopf verschieben.