Beim Anrollen von der Enteisungsfläche (De-icing Area) DA14 vor der Piste 26L des Flughafens München kollidierte das Flugzeug mit zwei Enteisungsfahrzeugen. Personen wurden nicht verletzt.
Das Flugzeug wurde leicht beschädigt. An den Enteisungsfahrzeugen entstand Sachschaden. Das Titelbild zeigt die Position des Flugzeuges und der Enteisungsfahrzeuge nach der Kollision.
Identifikation
- Art des Ereignisses: Schwere Störung
- Datum: 20. Januar 2016
- Ort: München
- Luftfahrzeug: Flugzeug
- Hersteller / Muster: Airbus / A320-216
- Personenschaden: ohne Verletzte
- Sachschaden: Luftfahrzeug leicht beschädigt
- Drittschaden: keiner
Ereignisse und Flugverlauf
Das Flugzeug war mit 110 Passagieren und sechs Besatzungsmitgliedern an Bord zum Abflug von München nach Madrid bereit. Nachdem das Flugzeug auf Anweisung der Vorfeldkontrolle zunächst von der Abstellposition zum Rollhaltepunkt S6 gerollt war, nahm die Besatzung um 07:41 Uhr Funkkontakt mit der Flugverkehrskontrollstelle München-Ground auf und erhielt die Anweisung, über den Rollweg S zur Enteisungsfläche DA14 zu rollen.
Laut den Daten des Flugdatenschreibers (FDR) rollte das Flugzeug auf dem Rollweg S mit einer Geschwindigkeit von ca. 20 kt. Aus der Aufzeichnung des Cockpit Voice Recorders (CVR) ging hervor, dass der Copilot während des Rollens die ATIS abhörte und den verantwortlichen Luftfahrzeugführer (PIC) anschließend über den Inhalt informierte, während das Luftfahrzeug um 07:45:32 Uhr mit etwa 20 kt an der Abzweigung zum Rollweg B14 vorbei weiter geradeaus rollte. Etwa 60 Meter östlich der Abzweigung begann sich die Geschwindigkeit des Flugzeuges zu verringern und erreichte um 07:45:50 Uhr einen Wert von ca. sechs Knoten. Abb. 2 zeigt die Rekonstruktion der Rollstrecke anhand von FDR Daten.
Löschsystem statt Ditching aktiviert
Nachdem er bemerkt hatte, dass das Flugzeug an dem vorgegebenen Rollweg vorbeigerollt war, wies der Rolllotse um 07:45:52 Uhr die Besatzung an: „Hold position […]“, und ergänzte etwa zwanzig Sekunden später: „[…] You missed de-icing area one four in bravo one four. Are you able to turn sharp right for bravo one four and de-icing area?“ Die Besatzung antwortete, dass sie dazu in der Lage sei. Das Flugzeug drehte anschließend und rollte zurück in Richtung Enteisungsfläche DA14.
Um 07:47:39 Uhr forderte der Rolllotse die Besatzung auf, auf die Enteisungsfrequenz zu wechseln. Die Besatzung bestätigte den Frequenzwechsel. Aus den Aufzeichnungen des CVR ging hervor, dass die Piloten um 07:48:08 Uhr Funkkontakt zu den Enteisungsfahrzeugen aufnahmen. Der Teamchef der Enteiser (Enteiser) antwortete: „[…] please stop on the deicing hold and confirm parking brake set and aircraft ready for deicing“. Die Besatzung bestätigte die Information mit den Worten: „We will do so. We will confirm.“ Die beiden Enteisungsfahrzeuge standen sich im Bereich der Enteisungsfläche an den jeweiligen Rollwegrandmarkierungen gegenüber.
Die Piloten begannen um 07:48:30 Uhr mit der Abarbeitung der Checkliste BEFORE DEICING. Nacheinander wurden der CAB PRESS MODE Selector auf „AUTO“ und ENG BLEED 1+2 sowie APU BLEED auf „OFF“ geschaltet. Um 07:48:49 Uhr forderte der verantwortliche Pilot (PIC) den Copiloten auf, den Schalter DITCHING auf Stellung „ON“ zu schalten und ergänzte „Confirma, ditching?“. Drei Sekunden später begannen die Piloten sich darüber zu unterhalten, dass sie soeben nicht den DITCHING-Schalter, sondern das Feuerlöschsystem des Cargo Compartments betätigt hatten.
Um 07:49:09 Uhr fragte der Enteiser: „[…] are you ready for de-icing?“. Die Besatzung antwortete: „Ah, hold on […]“. Der Enteiser sagte: „Okay, de-icing commences and ah we, make a two-step and ah anti-icing with type one fluid a hundred percent, I call you back.“
Um 07:49:43 Uhr sprach die Besatzung den Enteiser an: „So control, […], we need to go back to the parking“. Nachdem der Enteiser geantwortet hatte: „Please […] please say it again“, ergänzte die Besatzung um 07:49:52 Uhr: „We need to go back to the stand please. We have one problem.“ Daraufhin sagte der Enteiser um 07:49:55 Uhr: „You have technical problems, we will wait.“
Um 07:50:25 Uhr meldete sich die Besatzung wieder auf der Frequenz der Rollkontrolle und sagte dem Rolllotsen: „Yeah we have a technical problem. We need to go back to the parking area.“ Dieser bestätigte und teilte der Besatzung etwa zwei Minuten später nach einem Koordinationsgespräch mit dem Tower mit: „So we have to take you later then via the runway. So initially hold position here and monitor tower one two zero five. He will call you.“
Der BFU liegt ein Foto vor, welches ein Mitarbeiter der Enteisungsfirma von der benachbarten Enteisungsfläche DA13 aus aufgenommen hat. Es dokumentiert die Position des Flugzeuges und der Enteisungsfahrzeuge sowie die Wetterbedingungen um 07:52 Uhr, Abb. 3: Foto des Deicing Area 14 von 07:52 Uhr, Blick in östliche Richtung.
Um 07:53:51 Uhr nahm der Platzverkehrslotse Funkkontakt mit der Besatzung auf. Er erläuterte seinen Plan, dass das Flugzeug nach der Landung zweier anfliegender Luftfahrzeuge auf die Landebahn rollen und diese gleich darauf auf dem Rollweg B13 wieder verlassen sollte. Nachdem die Besatzung ihr Einverständnis erklärt hatte, sagte der Lotse um 07:54:16 Uhr: „Ok, prepare for that and I will give you a call as I said behind the second landing traffic“.
Um 07:56:54 Uhr sagte der Lotse: „[…] as we talked about line up runway two six left, make a one eighty and vacate the runway via bravo one three“. Die Besatzung bestätigte dies.
„Now we are crashed. You …“
Aus den Aufzeichnungen des FDR ging hervor, dass um 07:56:57 Uhr die Parkbremse gelöst und die Leistungshebel beider Triebwerke nach vorn geschoben wurden. Die Triebwerkdrehzahl N1 begann sich um 07:57:00 Uhr zu erhöhen und das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Die Geschwindigkeit stieg auf ca. drei Knoten. Um 07:57:10 Uhr zeichnete der FDR eine Änderung der Längsbeschleunigung von 0,2 g auf -0,15 g auf. Zwei Sekunden später wurden die Radbremsen betätigt und um 07:57:16 Uhr war die Parkbremse wieder gesetzt.
Um 07:57:51 Uhr rief der Enteiser laut über Funk: „[…] what have you … what do you doing?“ Der PIC antwortete daraufhin: „Sorry, sorry, we were cleared to entering the runway and we leaving contact you. What has happened?“ Der Enteiser entgegnete: „What have you done. Now we are crashed. You … please stop now.“ Der PIC bestätigte mit den Worten „we have stopped.“ Um 07:58:23 Uhr informierte der PIC den Lotsen darüber, dass das Flugzeug mit den beiden Enteisungsfahrzeugen kollidiert war.
Nach Angaben des PIC wurde bei der Abarbeitung der Checkliste BEFORE DEICING versehentlich an Stelle des DITCHING-Schalters zum Schließen des Auslassventils (Outflow Valve) am Cabin Pressure Panel, der Schalter CARGO SMOKE FWD DISCH am Cargo Smoke Panel für das Feuerlöschsystem des Forward Cargo Compartment betätigt. Daraufhin habe sich die Besatzung entschlossen, zur Abstellposition zurückzukehren. Nachdem der Lotse die Rollfreigabe erteilt hatte, habe die Besatzung nach rechts und links geschaut und kein Hindernis bemerkt. Dann habe der PIC mit dem Rollen begonnen. Dabei habe er den Eindruck gehabt, die Parkbremse sei noch gesetzt gewesen. Daraufhin habe er die Radbremsen betätigt.
Der Enteiser gab an, dass das Flugzeug, anstelle in den Rollweg B14 einzudrehen, in Richtung des weiter östlich befindlichen Rollweges B15 gerollt war. Das Flugzeug habe dann umgedreht und sei zum vorgesehenen Rollweg B14 gerollt. Er gab an, dass die Piloten sich über Funk gemeldet hätten und er daraufhin eine Freigabe zum Einrollen in den Enteisungsbereich DA14 erteilt habe. Als das Flugzeug die Halteposition erreicht hatte, habe der Chef des Enteisungsteams die Piloten angesprochen. Die Besatzung habe erwidert: „parking brake set, aircraft ready for de-icing“. Die Fahrzeuge seien links und rechts des Flugzeuges in einem Abstand von vier bis fünf Metern vor den Tragflächen positioniert worden. Unmittelbar vor Sprühbeginn habe die Besatzung im Cockpit ein technisches Problem gemeldet. Der Chef des Enteisungsteams habe geantwortet: „… we will wait“. Bis zu diesem Zeitpunkt sei noch kein Enteisungsmittel ausgebracht worden.
Der Enteiser hörte dann die Triebwerke des Flugzeuges hochlaufen und beobachtete, wie die Stop-Bar-Befeuerung auf dem Rollweg vor dem Flugzeug ausgeschaltet wurde und sich das Luftfahrzeug in Bewegung setzte. Nach der Kollision rief er die Besatzung über Funk und diese bestätigte, dass das Flugzeug gestoppt sei.
Angaben zu Personen
Verantwortlicher Pilot
Der 42 Jahre alte verantwortliche Pilot war seit dem Jahr 1999 im Besitz einer Lizenz für Verkehrspiloten (ATPL(A)), ausgestellt durch die spanische Luftfahrtbehörde (AESA). In die Lizenz waren unter anderem die Berechtigungen für das Muster A320 und für Instrumentenflüge IR(A), gültig bis zum 30.06.2016, eingetragen. Der PIC hatte ein medizinisches Tauglichkeitszeugnis Klasse 1, gültig bis zum 19.10.2016.
Der Pilot hatte eine Gesamtflugerfahrung von mehr als 15.000 Stunden, davon mehr als 1.000 Stunden auf dem Muster A320. Seit dem Jahr 2014 war er als PIC tätig.
Copilot
Der 35-jährige Copilot besaß eine Lizenz der Europäischen Union für Verkehrspiloten (ATPL(A)), ausgestellt am 09.09.2009 durch die spanische Luftfahrtbehörde (AESA). In die Lizenz waren unter anderem die Berechtigungen für das Muster A320 und für Instrumentenflüge IR(A), gültig bis zum 31.12.2016, eingetragen.
Der Copilot hatte ein medizinisches Tauglichkeitszeugnis Klasse 1, gültig bis zum 31.08.2016. Seine Gesamtflugerfahrung betrug zum Ereigniszeitpunkt etwa 7.680 Stunden, davon mehr als 3.000 Stunden auf dem Muster A320.
Angaben zum Luftfahrzeug
Das Flugzeug Airbus A320-216 ist ein zweistrahliger Mitteldecker in Gemischtbauweise. Das Luftfahrzeug war in Spanien zum Verkehr zugelassen und wurde von einem spanischen Luftfahrtunternehmen betrieben.
- Hersteller: Airbus Industries
- Muster: A320-216
- Werknummer: 5570
- Baujahr: 2013
- Triebwerke: CFM International, CFM56-5B6/3
Die Gesamtbetriebszeit des Flugzeuges betrug ca. 6.835 Stunden bei 4.682 Zyklen. Aus der Dokumentation des Flugzeugherstellers ging hervor, dass durch Einschalten des mit DITCHING beschrifteten Schalters am CABIN PRESS Panel vor einer Enteisung das Out Flow Valve (OFV) zu schließen war.
Bei einer Rauchentwicklung im vorderen oder hinteren Cargo Compartment war der jeweilige Feuerlöscher zu aktivieren, über einen mit der Beschriftung DISCH versehenen und mit einer roten Schutzklappe gesicherten Druckschalters am CARGO SMOKE Panel des Overhead Panel. Abb. 4 zeigt das CABIN PRESS Panel und CARGO SMOKE Panel.
Meteorologische Informationen
Laut der Routinewettermeldung (METAR) von 07:50 Uhr (06:50 UTC) herrschten folgende Wetterbedingungen:
- Wind: 220° / 3kt
- Bewölkung: ein bis zwei Achtel in 300 ft über Grund
- Bodensicht: allgemein 2.500 Meter, im Südosten des Flughafens 550 Meter
- Pistensichtweite (RVR): Piste 26L 500 m bis 2.000 Meter
- Wettererscheinungen: einzelne Nebelschwaden
- Temperatur: -13 °C
- Taupunkt: -14 °C
- Luftdruck (QNH): 1.016 hPa
- Sonnenaufgang war um 07:55 Uhr.
Funkverkehr
Der Funkverkehr zwischen der Besatzung und München Apron, München Ground, sowie München Tower wurde aufgezeichnet und stand der BFU zur Auswertung zur Verfügung.
Angaben zum Flugplatz
Der Flughafen München verfügte über zwei parallel verlaufende je 4.000 m lange und 60 Meter breite Start- und Landebahnen in den Richtungen 083°/263°. Der Flughafen lag in einer Höhe von 1.487 ft AMSL. Zum Ereigniszeitpunkt war die Startrichtung 26 in Betrieb. Die Rollwege hatten eine Breite von 30 Metern.
Flugdatenaufzeichnung
Das Luftfahrzeug war mit einem Cockpit Voice Recorder (CVR) Honeywell SSCVR und einem Flugdatenschreiber (FDR) Honeywell SSFDR ausgerüstet. Beide Geräte wurden im Flugschreiberlabor der BFU ausgelesen.
Der FDR speicherte 845 Parameter bei einer Aufzeichnungsdauer von 26:34 Stunden. Der CVR zeichnete insgesamt fünf Kanäle auf, davon zwei mit 120 Minuten und drei mit 30 Minuten Dauer.
Unfallstelle und Feststellungen am Luftfahrzeug
Die Schwere Störung ereignete sich auf der Enteisungsfläche DA14 ca. 160 m nördlich der Piste 26L. Das Luftfahrzeug stand mit dem Bugfahrwerk auf der Mittellinie des Rollweges, die Rumpfnase befand sich unmittelbar nördlich des CAT II/III Haltebalkens, etwa 7,5 Meter hinter der Markierung Deicing Hold.
Das Flugzeug war mit den Tragflächen im Bereich des Übergangs zu den Sharklets mit den Auslegern der beiden Enteisungsfahrzeuge kollidiert. Dabei wurde das Flugzeug an beiden Sharklets leicht beschädigt.
Die Fahrerhäuser der Enteisungsfahrzeuge befanden sich auf Höhe der jeweiligen Randmarkierung des Rollweges. Die Fahrzeuge waren seitlich um etwa 20° gekippt, sodass sie jeweils entweder auf den linken oder rechten Rädern standen. Abb. 5 zeigt die Position des Flugzeuges nach der Kollision. Abb. 6 zeigt einen Auszug aus der Datenaufzeichung des FDR.
Überlebensaspekte
Zur Zeit des Ereignisses waren die Fahrer der beiden Enteisungsfahrzeuge in der Arbeitskabine am Hydraulikarm ihres jeweiligen Fahrzeuges. Die Kabinen befanden sich in einer Höhe von ca. sechs Metern über Grund. Die Feuerwehr sicherte zunächst die Enteisungsfahrzeuge mit Stahltrossen ab. Anschließend wurden die beiden Fahrer aus den Kabinen geborgen.
Organisationen und deren Verfahren
Der Munich Airport Aircraft De-Icing Plan Winter Season 2015/2016 beinhaltete betriebliche Verfahren die zum Ziel hatten, sichere ordnungsgemäße und effiziente Enteisung von Luftfahrzeugen zu gewährleisten. Der De-Icing Plan war eine Ergänzung der im Luftfahrthandbuch (AIP) für den Flughafen München veröffentlichten Enteisungsverfahren.
Dieser Plan war zwischen der Flughafengesellschaft, der Flugsicherungsorganisation und dem Unternehmen, das die Flugzeugenteisung durchführte, abgestimmt.
In Kapitel 6 De-icing of jet-aircraft war unter anderem festgelegt:
When taxiing onto de-icing area assigned, pilot shall make sure, that the auxiliary power unit (APU) is switched off, flaps and slats are retracted and bleed air system is closed. The de-icing operation will commence after the pilot has confirmed, that parking brake is set and aircraft is ready for de-icing.
[…]
Es war zudem die Phraseologie festgelegt, die die Enteiser anzuwenden hatten.
Zusätzliche Informationen
Association of European Airlines
Die De-icing/Anti-icing Training Working Group der Association of European Airlines (AEA) arbeitet nach eigenen Angaben daran, sichere, ökonomische und allgemein gültige Standards und Verfahren für das Enteisen von Luftfahrzeugen zu entwickeln.
Die aktualisierten Empfehlungen wurden zuletzt in dem Papier AEA Training Recommendations and Background Information for De-Icing/Anti-Icing of Aeroplane on the Ground (12th Edition) im August 2015 veröffentlicht.
Das Dokument enthielt unter anderem Empfehlungen zur Kommunikation zwischen der Flugbesatzung und dem Enteisungspersonal. Es wurden Beispiele für die Kommunikation aufgeführt und darauf verwiesen, die ICAO-Standard-Phraseologie anzuwenden.
Die AEA hat zum 31.12.2016 sämtliche Aktivitäten eingestellt.
Society of Automotive Engineers
Die Society of Automotive Engineers (SAE International) entwickelt im Bereich der Luftfahrt Normen, die weltweit von Luftfahrzeugherstellern, Luftfahrtunternehmen und Behörden anerkannt und angewandt werden.
Bezüglich der Enteisung von Luftfahrzeugen wurde im Oktober 2016 das Document ARP6257TM veröffentlicht.
Das Dokument enthielt in Kapitel 3 Phraseology Empfehlungen zur Standardphraseologie für die Kommunikation zwischen Flugbesatzung und Enteisungspersonal. In dem Kapitel wurde zwischen Normal Operations und Abnormal Operations unterschieden. Der Abschnitt 3.2.2 Abnormal Operations führte Beispiele für Abnormal Occurrences auf und beschrieb zudem die Standardphraseologie für Interrupted Operations. Für den Fall eines Abbruchs der Enteisung durch die Flugbesatzung enthielt das Dokument keine Standardphraseologie.
Beurteilung
Allgemeines
Das Flugzeug wurde bei der Kollision leicht, die Enteisungsfahrzeuge schwer beschädigt. Aufgrund der nach dem Zusammenstoß entstandenen Schräglage der Enteisungsfahrzeuge war die Gefahr des Umkippens und daraus resultierend die Wahrscheinlichkeit einer schweren Verletzung der Bediener groß.
Die FDR-Daten zeigen, dass das Flugzeug sechs Sekunden nach dem Losrollen mit den Enteisungsfahrzeugen kollidiert war. Die Daten zeigen auch, dass das Luftfahrzeug mit geringer Geschwindigkeit rollte und dass unmittelbar nach der Kollision, die Radbremsen betätigt und dann die Parkbremse gesetzt wurden. Beide Piloten besaßen die für die Flugdurchführung vorgeschriebenen Lizenzen und Berechtigungen und waren mit jeweils über 1.000 Stunden auf dem Muster erfahren.
Handlungen von Personen
Die Besatzung war gerade damit beschäftigt, sich über die in der ATIS enthaltenen Informationen auszutauschen, als das Flugzeug an dem vorgegebenen Rollweg vorbeigerollte.
Aus den Datenaufzeichnungen des CVR ergibt sich, dass die Piloten bei der Vorbereitung des Flugzeuges zum Enteisen die Checkliste BEFORE DEICING schrittweise abarbeiteten. Trotz dieser schrittweisen Abarbeitung und der zusätzlichen Frage des PIC: „Confirma, ditching?“, betätigte der Copilot anstelle des DITCHING-Schalters, den Schalter des Feuerlöschsystems des Cargo Compartments.
Auf die Frage der Enteiser: „[…] are you ready for de-icing?“, hatte der PIC geantwortet: „Ah, hold on […]“. Obwohl der PIC nicht explizit bestätigt hatte: „ready for de-icing“, sondern zum Abwarten aufgefordert hatte, setzte der Enteiser die Kommunikation routinemäßig fort: „Okay, de-icing commences and ah we, make a two-step and ah anti-icing with type one fluid a hundred percent, I call you back.“ Mit den Worten: „So control, […], we need to go back to the parking.“, und: „We need to go back to the stand please. We have one problem“, wollte der PIC die Enteiser darüber informieren, dass eine Enteisung nicht mehr erforderlich sei, da das Flugzeug nicht abfliegen würde.
Die Antwort des Enteisers: „You have technical problems, we will wait“, zeigt nach Ansicht der BFU, dass dieser zwar die Information über das aufgetretene Problem verstanden hatte, jedoch nicht den bereits gefassten Entschluss des PIC zur Abstellfläche zurückzurollen. Er ging sehr wahrscheinlich davon aus, dass es lediglich eine Verzögerung des Beginns der Enteisung geben würde. Der PIC wiederum bemerkte nicht, dass die Worte des Enteisers: „we will wait“, anzeigten, dass seine Aufforderung nach Abbruch der Enteisung nicht vollständig verstanden wurde und dass die Fahrzeuge in ihren Positionen verbleiben würden.
Der PIC nahm dann wieder Funkkontakt mit dem Rolllotsen auf und teilte diesem seine Absicht mit, aufgrund des technischen Problems zurückzurollen. Der Rolllotse besprach daraufhin mit dem Platzverkehrslotsen das weitere Vorgehen. Nachdem die Besatzung auf die Frequenz von München Tower gewechselt hatte, erteilte der Platzverkehrslotse die Anweisung: „[…] as we talked about line up runway two six left, make a one eighty and vacate the runway via bravo one three“. Die Datenaufzeichnungen des FDR belegen, dass zunächst die Parkbremse gelöst und eine Sekunde danach die Leistungshebel beider Triebwerke nach vorn geschoben wurden. Bereits während die Besatzung die Anweisung des Losten noch über Funk bestätigte, setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Die Geschwindigkeit erreichte innerhalb von etwa vier Sekunden einen Wert von ca. drei Knoten.
Die um 07:57:10 Uhr aufgezeichnete Änderung der Längsbeschleunigung von 0,2 g auf -0,15 g markiert die Kollision mit den Enteisungsfahrzeugen. Der PIC hatte dies nach seinen Angaben zunächst nicht einer Kollision zugeordnet, betätigte jedoch die Radbremsen und setzte die Parkbremse. Er erkannte später durch die Rufe des Enteisers die Situation.
Sicherheitsmechanismen
Im Rahmen dieser Untersuchung sollen unter dem Begriff „Sicherheitsmechanismen“ technische Systeme, Maßnahmen, Verfahren und Einrichtungen verstanden werden. Diese sollen die Auswirkungen auftretender technischer oder menschlicher Fehler im Sinne der Wahrung der Flugsicherheit minimieren.
Zur Vorbereitung des Flugzeuges für die Enteisung war ein Verfahren festgelegt, welches die Piloten mit der Abarbeitung der entsprechenden Checkliste umsetzen sollten. Als zusätzlicher Sicherheitsmechanismus gegen eine versehentliche Betätigung des DISCH-Schalters war dieser mit einer roten Schutzklappe (red guarded button) versehen. Die Zusammenarbeit der Piloten erfolgte routiniert. Die fehlerhafte Schaltung ist nach Ansicht der BFU auf Unkonzentriertheit sowohl bei dem ausführenden Copiloten als auch bei dem überwachenden PIC zurückzuführen. Möglicherweise hat auch die Ähnlichkeit der Beschriftung der Schalter DITCHING und DISCH eine Verwechselung begünstigt.
Fehlende ICAO-Standard-Phraseologie bei Enteisung
Auch wenn der am Flughafen München geltende Enteisungsplan Verfahrensbeschreibungen und Vorgaben für die durch die Enteiser bei der Kommunikation mit Piloten anzuwendende Phraseologie enthielt, hat der Enteiser die Bestätigung „ready for deicing“ von der Besatzung nicht konsequent eingefordert. Die Phraseologie des Enteisungsplans, wie auch die des AEA-Papiers, enthielten jedoch keine konkreten Vorgaben für die Kommunikation bei einem Abbruch der Enteisungsarbeiten. Der vorliegende Fall zeigt, dass weder Pilot noch Enteiser faktisch fehlerhafte Formulierungen verwendet haben.
Trotzdem haben beide Beteiligte die kommunizierten Informationen des jeweils anderen nicht in vollem Umfang verstanden, sondern stattdessen mit dem eigenen mentalen Bild der Situation in Übereinstimmung gebracht (Confirmation Bias). Auch wenn bei Enteisungsunternehmen, wie auch bei Luftfahrtunternehmen die Bedeutung standardisierter Kommunikation grundsätzlich erkannt und deren Anwendung akzeptiert war, gab es jedoch für den Bereich Enteisung keine gleichermaßen für Piloten und Enteiser geltende, umfassende ICAO-Standard-Phraseologie. Somit war die Wahrscheinlichkeit für kommunikative Missverständnisse erhöht.
Kontrollblick
Aus den Aufzeichnungen des CVR ergibt sich, dass keiner der beiden Piloten verbal die Hindernisfreiheit im Bereich der Tragflächen, beispielsweise mit den Worten: „left“, bzw „right side is clear“, bestätigt hat. Entgegen den Angaben des PIC, die Besatzung habe vor dem Anrollen nach rechts und links geschaut und dabei kein Hindernis bemerkt, ist die BFU davon überzeugt, dass keiner der beiden Piloten direkt in Richtung der Enteisungsfahrzeuge geblickt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Piloten in dieser Phase ihre Aufmerksamkeit auf den vor ihnen liegenden Bereich der Start- und Landebahn konzentrierten, in den sie rollen würden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war das Thema Enteisung für die Piloten mental bereits erledigt, da das Flugzeug nicht mehr abfliegen sollte. Dies führte dazu, dass im vorliegenden Fall der Sicherheitsmechanismus des Kontrollblicks nicht effektiv war.
Schlussfolgerungen
Die Schwere Störung ist darauf zurückzuführen, dass:
- es in der Kommunikation über den Abbruch des Enteisungsvorgangs zwischen dem PIC und den Enteisern zu Fehlinterpretationen kam und
- keiner der beiden Piloten direkt vor dem Losrollen sich von der Hindernisfreiheit überzeugte.
Zu der Schweren Störung hat das Fehlen einer für Piloten und Enteiser gleichermaßen standardisierten Phraseologie beigetragen.
Sicherheitsempfehlungen
Maßnahmen der Enteisungsfirma
Nach Angaben der Enteisungsfirma hat diese nach dem Ereignis als Sofortmaßnahme festgelegt, dass die Enteisungsfahrzeuge parallel zur Flugzeuglängsachse positioniert werden sollen, um ein Kippen der Fahrzeuge bei einer Kollision zu vermeiden.
Sicherheitsempfehlungen der BFU
Die BFU hat folgende Sicherheitsempfehlung herausgegeben:
BFU SE Nr. 07/2017
Um das Risiko von Missverständnissen im Funksprechverkehr zu verringern, sollte die Society of Automotive Engineers (SAE International) das Papier Aircraft Ground De/Anti-Icing Communication Phraseology for Flight and Ground Crews (ARP6257TM) ergänzen.
Der Abschnitt 3.2.2 Abnormal Operations sollte um Empfehlungen zur Standardphraseologie für Piloten und Enteisungspersonal bezüglich einer eineindeutigen Kommunikation für den Fall eines Abbruchs einer Enteisung ergänzt werden.
Alle angegebenen Zeiten, soweit nicht anders bezeichnet, in Ortszeit. Quelle und Bilder, wenn nicht anders angegeben: BFU.