Die Idee, eine reine „Life Science Kampagne“ zu fliegen, kommt von der internationalen Arbeitsgruppe „ISLSWG“ – ein Expertennetzwerk auf Raumfahrtagenturebene, für Lebenswissenschaften im Weltraum. Auf dieser besonderen Kampagne stehen insgesamt acht Experimente in drei Flugtagen auf dem Plan – drei davon stammen aus Deutschland.
Der letzte Start des Parabelflugzeugs Airbus A310 ZERO-G vom Flughafen Bordeaux-Mérignac ist in mehrfacher Hinsicht eine Premiere: Erstmals wurden sich ausschließlich lebenswissenschaftliche Experimente bei einer gemeinsamen Kampagne des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), der Europäischen Weltraumorganisation ESA und der französischen Raumfahrtagentur CNES drei ganz unterschiedlichen Schwerkraftbedingungen ausgesetzt. Außerdem wird zum ersten Mal ein lebenswissenschaftliches Experiment der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA aus den USA an Bord sein.
Besondere Gäste an Bord
Parabelflüge, auch wissenschaftliche Parabelflüge, haben in den USA ebenfalls eine lange Tradition, aber derzeit werden dort keinen wissenschaftlichen Kampagnen durchgeführt. An der ISLSWG Partial G Kampagne beteiligt sich NASA mit einem umfangreichen Experiment. „Wir freuen uns sehr über die Teilnahme an dieser besonderen Kampagne in Europa mit dem A310. Unser Experiment, bei dem wir den Blutfluss und den Blutdruck in der oberen Körperhälfte als auch den Augeninnendruck bei den verschiedenen partiellen G-Leveln untersuchen, hilft uns, die Reaktionen des menschlichen Körpers besser zu verstehen und so für Astronauten bei Langzeitaufenthalten dafür Sorge tragen zu können, dass sie gesund und leistungsfähig bleiben. Der erste Flugtag war sehr spannend und wir sind gespannt auf die Auswertung unserer Ergebnisse“, sagt David Martin, Projektwissenschaftler vom Team „Gravitational Dose“ vom Cardiovascular and Vision Laboratory am NASA Johnson Space Center.
Life Science: Experimente in der Schwebe
Normalerweise ist Forschung unter Schwerelosigkeit eine interdisziplinäre Angelegenheit. Materialforscher interessieren sich zum Beispiel für die Schmelze von bestimmten Legierungen. Physiker wollen herausfinden, wie sich unter anderem Flüssigkeiten oder Plasmen bei eingeschränkter Gravitation verhalten. Doch dieses Mal kommen ausschließlich lebenswissenschaftliche Experimente auf der knapp 100 Quadratmeter großen Experimentierfläche in den Genuss der reduzierten Schwerkraft.
„Wir konzentrieren uns bei dieser besonderen Kampagne auf die Lebenswissenschaften, weil sie uns Antworten auf wichtige Fragen geben. Zum Beispiel wie sowohl Astronauten als auch wir Menschen auf der Erde gesund und fit bleiben. Mit der Initiative von ISLSWG ergibt sich nun die Chance, mit den Experimenten der Experten zu einigen dieser wichtigen Fragen Antworten zu finden“, betont die Programmleiterin der Parabelflüge auf Seiten des DLR, Dr. Katrin Stang.
Kampagne unter Führung internationaler Experten
Die International Space Life Sciences Working Group (ISLSWG) ist ein internationaler Zusammenschluss der Raumfahrtagenturen Amerikas, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Japans und Kanadas sowie der Europäischen Weltraumorganisation ESA, um die globale Zusammenarbeit zu stärken. Dieses Netzwerk unter dem Vorsitz der NASA bringt nationale Agenturen und Forscher aus aller Welt im Bereich der Lebenswissenschaften auf dem internationalen Parkett zusammen, um die Entwicklung und die möglichst effiziente, gemeinsame Nutzung von Forschungseinrichtungen und Ressourcen weltweit – und mit der Internationalen Raumstation ISS auch darüber hinaus – voranzutreiben. Ein intensiver Informationsaustausch zwischen den Agenturen und Wissenschaftlern sichert den Erkenntnisgewinn und hilft dabei, die besonderen Bedingungen des Weltraums optimal zu nutzen, um Anwendungen für den Menschen auf der Erde abzuleiten und Exploration möglich zu machen.
Unterschiedliche Schwerkraft
Wenn der Airbus A310 ZERO-G nach etwa 30 Minuten Flugdauer sein Zielgebiet erreicht hat, kündigt die Durchsage des Kapitäns die erste von insgesamt 31 Parabeln eines Flugtages an. Erst sind es noch fünf, dann nur noch eine Minute, 30 Sekunden, 5, …, 3, 2, 1 – „Pull up!“, lautet das Kommando aus dem Cockpit – für alle Beteiligten das Signal, dass die Piloten das Flugzeug nun nach oben ziehen. Nach diesem Steigflug, in dem 1,8 G an Bord herrschen und die Passagiere fast doppelt so schwer sind, folgt normalerweise die 22 Sekunden lange sogenannte 0G Phase – die absolute Schwerelosigkeit.
„Die wird es jedoch bei dieser Kampagne nicht geben. Denn auf der Partial G Kampagne fliegt das Pilotengespann drei spezielle Formen einer Parabel. Dabei werden anstelle von 0G-Schwerelosigkeit – stattdessen ein Viertel, die Halbe so wie Dreiviertel der Schwerkraft der Erde noch vorhanden sein. Die Passagiere an Bord empfinden also noch ein Viertel, die Hälfte oder Dreiviertel ihres eigenen Körpergewichts – je nach Flugkurve“, erklärt Katrin Stang.
„Die Möglichkeit, auf dieser Kampagne Parabeln mit partieller Schwerkraft für die Experimente zur Verfügung zu haben, ist eine einzigartige Chance, biologische und physiologische Systeme zu beobachten und zu verstehen, wie die zugrunde liegenden Mechanismen funktionieren. Wir sind sehr froh, mit einem Experiment von NASA beteiligt zu sein und zu untersuchen, wie Menschen auf diese besonderen Bedingungen reagieren. Dies ist ein wichtiger Schritt Richtung Exploration“, ergänzt Craig Kundrot, Vorsitzender von ISLSWG und Direktor der Abteilung Space Life and Physical Sciences Research & Applications bei der NASA.
Experimente aus Deutschland
Wie wirkt sich die Schwerelosigkeit auf die Kontrolle unserer Muskeln aus? Wie mental leistungsfähig sind wir unter diesen Bedingungen? Was bedeuten die Schwellenwerte für die Wahrnehmung von Gravitation bei Pflanzen? Drei deutsche Experimente an Bord werden gerade diesen Fragestellungen nachgehen.
- Stolpern in partieller Gravitation: Damit der Mensch sich in seiner Umwelt bewegen und mit ihr interagieren kann, braucht er fein abgestimmte Muskelbewegungen wie etwa zur Fortbewegung oder zur Kontrolle des sicheren Standes. Gerade unter verringerter Schwerkraft müssen wir über unsere Nervenbahnen die Muskeln effektiv kontrollieren können. Tun wir das nicht, erhöht sich drastisch die Gefahr zu stolpern. Das gilt für uns auf der Erde wie für den Astronauten im Weltraum. Doch scheinen die reduzierten Gravitationsbedingungen diese sogenannte neuromuskuläre Kontrolle in anspruchsvollen Situationen zu beeinflussen und die Stolpergefahr der Astronauten zu erhöhen. Warum das so ist, untersuchen Forscher der Universität Freiburg. Die Ergebnisse sollen das Sicherheitsrisiko der Raumfahrer bei Missionen zu anderen Planeten senken und damit ein fundamentales Sicherheitsproblem in der humanphysiologischen Weltraumforschung lösen.
- Hirne im Weltall – Teil 4: Stress wirkt sich negativ auf unsere mentale Gesundheit aus und belastet unsere kognitive Leistungsfähigkeit – beides Faktoren, die für den Erfolg und die Sicherheit einer Langzeitmission von Bedeutung sind. Denn das Leben unter extremen Bedingungen löst vielfältig Stress aus. Obwohl diese Zusammenhänge schon länger bekannt sind, bleiben viele Fragen bezüglich der Ursachen neurokognitiver Leistungsfähigkeit offen. Das Team der Deutschen Sporthochschule Köln will versuchen, die Auswirkungen von Stress auf die mentale Gesundheit besser zu verstehen. So sollen adäquate Gegenmaßnahmen entwickelt werden, die zu einer Verbesserung der Sicherheit und zum Erfolg einer Langzeitmission beitragen können.
- Pflanzenwachstum in 3D und in Farbe: Für Pflanzen ist die Wahrnehmung von Schwerkraft wichtig für den Wachstumsprozess. Im Experiment der Universität Freiburg untersuchen Wissenschaftler mit Hilfe des Fluoreszenz-mikroskops FLUMIAS die dynamischen Veränderungen in Zellen von Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) die von den „Schweresteinen“ (Statolithen) ausgelöst werden. Die drei verschiedenen G-Level werden vor allem erlauben, die Reaktion bei Schwellenwerten zu untersuchen. Die Zellen werden dabei angefärbt und mit dem von Airbus im Auftrag des DLR Raumfahrtmanagements gebauten FLUMIAS-Mikroskops in hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung lebend beobachtet. Ein „Schwestermodell“ von FLUMIAS wird mit einer neuen Technologie auf der horiszons-Mission des deutschen ESA-Astronauten Alexander Gerst zum Einsatz kommen.