Sie fliegen in bis zu mehreren hundert Kilometern Abstand zur Erde und können doch detaillierte Informationen liefern, die den Helfern am Boden ihre Arbeit erleichtern: die Erdbeobachtungssatelliten, deren Technologie in den nächsten zwei Jahren mit dem Projekt EO4HumEn+ (Extended EO-based services for dynamic information needs in humanitarian action) auch für humanitäre Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder das Rote Kreuz im Einsatz ist.
„Es ist der Blick aus dem All, der großräumig die Zusammenhänge erkennen lässt“, sagt Prof. Dr. Pascale Ehrenfreund, Vorstandsvorsitzende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). „Der Bedarf an Informationen in humanitären Krisen steigt zunehmend, auch wird die Bewertung von Ursachen und möglicher Entwicklung von Krisensituationen immer wichtiger – daher beteiligt sich das DLR an der Suche nach Antworten auf diese gesellschaftlichen Herausforderungen und nutzt seine Technologien für die humanitäre Hilfe.“ Die DLR-Wissenschaftler können anhand der Satellitenaufnahmen beispielsweise die Anzahl der Menschen in einem Flüchtlingslager abschätzen – eine Aufgabe, die von den Helfern vor Ort nur mühsam und zeitaufwendig übernommen werden könnte.
Raumplanung mit Einbezug aller Ressourcen
„Viele Flüchtlingslager entstehen sehr schnell und wachsen teilweise rasch zur Größe von Städten an“, erläutert Dr. Elisabeth Schöpfer vom Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum des DLR. Die Informationen, die mit der Auswertung von Satellitenbildern gewonnen werden, werden nach den Anforderungen der Helfer vor Ort zusammengestellt: Wie viele Menschen haben sich insgesamt in einem Lager angesiedelt und benötigen Lebensmittel, Wasser und medizinische Hilfe? Wo und in welcher Anzahl macht es Sinn, Brunnen zu bauen? Welche Auswirkungen hat das Flüchtlingslager auf die Umwelt und Ressourcen der direkten Umgebung? Könnte es vielleicht sogar dazu kommen, dass dadurch Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung entstehen? Mit jedem Überflug eines Satelliten können diese Informationen aktualisiert werden. „Unsere Karten und Analysen können daher Planungsgrundlage für die Einsätze der Hilfsorganisationen sein.“
Die Aufgabe der DLR-Wissenschaftler ist dabei, die in den Satellitenaufnahmen enthaltenen Informationen zum Beispiel in einer Kartendarstellung sichtbar zu machen. „Ein Satellitenbild kann nicht jeder interpretieren – die relevante Information muss zunächst herausgefiltert werden.“ Verwendet wird ein breites Spektrum von kommerziellen, zivilen Satelliten, um die Vorteile der jeweiligen Technik zu verbinden: Aufnahmen im sichtbaren und Infrarotbereich des Spektrums werden durch Radaraufnahmen ergänzt, die auch ohne Tageslicht und bei Bewölkung aufgenommen werden können. „Das Gesamtbild ergibt sich dann aus der Kombination von Aufnahmen mit großer räumlicher Abdeckung und Aufnahmen mit sehr detaillierter Auflösung.“
Weltraumperspektive: neutral und zeitnah
Das Österreichische Rote Kreuz ist Partner im Projekt: „Oft wissen wir nicht, wo wie viele Menschen in einem ländlichen Gebiet wohnen, weil die Entfernungen groß sind und der Zugang in Konfliktgebiete sehr schwierig ist“, erläutert Elmar Göbl vom Österreichischen Roten Kreuz. „Ganz konkret gesagt: Die Siedlungen sind oftmals weit verstreut, da ist es zum Beispiel wichtig, die günstigste Position für ein Bohrloch in Bezug auf die Bevölkerungsverteilung festzulegen.“ Die Hilfsorganisation ist dafür meist auf die unterschiedlichen und nicht immer zuverlässigen Angaben der lokalen Bevölkerung und der staatlichen Stellen angewiesen. Neutrale und zeitnahe Informationen aus dem All sind da hilfreich. Auch die Möglichkeit, Regionen über einen längeren Zeitraum hinweg zu beobachten, kann dazu beitragen, Maßnahmen der Hilfsorganisation anzupassen und zu optimieren. So kann aus dem Weltraum zum Beispiel kontrolliert werden, ob eine Wiederaufforstung durch das Rote Kreuz erfolgreich verläuft. „Man könnte viele dieser Informationen am Boden sammeln, das wäre aber sehr aufwendig und geht über eine Erfassung mit Satelliten deutlich schneller und effektiver.“
Entscheidungshilfe für die Helfer
Auch Nutzer wie die österreichische Sektion von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) profitieren von der Raumfahrt-Technologie. „Damit die Menschen vor Ort auch die Unterstützung bekommen, die sie benötigen, sind akkurate und zeitnahe Informationen enorm wichtig“, betont Edith Rogenhofer von Ärzte ohne Grenzen in Wien. Bei Impfkampagnen zum Beispiel müssen die Teams der Hilfsorganisation möglichst exakt planen können und genau wissen, wie viele Menschen im Einsatzgebiet leben. „Wir müssen aber nicht nur die richtige Anzahl der Impfdosen richtig hochrechnen, sondern auch die Anzahl der benötigten sanitären Einrichtungen und Kliniken bis hin zur Menge Wasser, die gebraucht wird.“ Flüchtlingslager seien keine statischen Gebilde, sondern wachsen, schrumpfen und bewegen sich, erläutert Edith Rogenhofer, die die Situation vor Ort aus Erfahrung kennt. „Darauf müssen wir reagieren und unsere Hilfsprojekte gut aufeinander abstimmen und koordinieren.“
Zwei Jahre wird das Projekt EO4HumEn+ laufen. In einem ersten Schritt wird nun genau definiert, für welches Gebiet als erstes Satellitenauswertungen für humanitäre Einsätze erstellt werden sollen. „Eine wichtige Region könnte zum Beispiel Ostafrika sein“, sagt Dr. Elisabeth Schöpfer vom DLR. „In diesem Gebiet waren die Entwicklungen aufgrund von Krisen, Konflikten und der Dürre der vergangenen Jahre sehr dynamisch.“ Im Projekt ergänzen sich dabei die Arbeiten der Universität Salzburg und des DLR. „Für die Hilfsorganisationen ist das Projekt eine praktische Unterstützung in ihrer Arbeit, für die Wissenschaftler ist es eine Möglichkeit, die Forschung voranzutreiben, sich auszutauschen und voneinander zu lernen.“
Das Projekt EO4HumEn+
Unter der Leitung von Dr. Stefan Lang der Universität Salzburg (Interfakultärer Fachbereich Geoinformatik – Z_GIS) arbeiten die Projektpartner – das DLR, das Österreichische Rote Kreuz und Spatial Services GmbH – zusammen. Zu den Nutzern gehören das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, Ärzte ohne Grenzen und das SOS-Kinderdorf International. Förderungsgeber sind die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) über das österreichische Weltraumprogramm ASAP (Austrian Space Applications Programme) sowie das DLR.
Zwischen FFG und DLR besteht seit vielen Jahren eine strategische Partnerschaft. Auf der Grundlage des gemeinsamen Rahmenabkommens setzte die FFG in der Ausschreibung des österreichischen Weltraumprogramms im letzten Jahr erstmals einen Schwerpunkt auf Kooperationen mit dem DLR. Das Projekt EO4HumEn+ ging als eines mehrerer bilateraler Projekte mit DLR-Beteiligung erfolgreich aus dieser Ausschreibung hervor.
Auf den Fotos: Eine Sentinel-2A-Satellitenbildaufnahme des vor einem Jahr gestartetten Satlelliten Sentinel-2A vom 11. Februar 2016 zeigt das Flüchtlingslager Hagadera in Kenia, nahe der Grenze zu Somalia (Titelbild); Veränderungen in der Dichte von Unterkünften: In dieser Darstellungen werden Zu- und Abnahmen in der Dichte von Unterkünften farbig markiert: Eine Zunahme ist in rot, eine Abnahme in blau kenntlich gemacht.