Ulf Merbold erinnert sich an Spacelab-Flug vor 30 Jahren

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Am 28. November 1983 flog der deutsche Ulf Merbold mit dem Space Shuttle Columbia in den Erdorbit. Mit an Bord: Das europäische Forschungsmodul Spacelab, in dem Merbold als Nutzlast-Spezialist 72 Experimente durchführte. Eine Erfahrung fürs Leben, denn Merbold arbeitete anschließend bei der D1-Mission mit, flog 1992 mit der STS-42-Mission ins All und 1993 mit einer Sojus zur russischen Raumstation MIR.

Zehn Tage, sieben Stunden und 47 Minuten dauerte der erste Weltraumeinsatz von Ulf Merbold. Im Interview erzählt er über die Auswahl durch das Deutsche Zentrum für Luft- und (DLR) und der europäischen Weltraumorganisation ESA, seine Arbeit als erster Nicht-Amerikaner auf einer NASA-Mission und der Gemütslage in den letzten Stunden vor dem Start.

Kein Wettrennen – zumindest für Merbold

Sie starteten als erster Westdeutscher mit der ersten Spacelab-Mission ins All. Fünf Jahre zuvor war Sigmund Jähn als erster DDR-Bürger zur Raumstation Saljut 6 geflogen. Immer wieder wird diese Zeit als Wettrennen bezeichnet. Nimmt man dies auch so wahr, wenn man Teil der Mission ist?

Ich teile diese Sicht überhaupt nicht. Nach dem Ende des Apollo-Programms der NASA hatten sich die Europäer entschlossen, die Einladung der Amerikaner anzunehmen und einen Beitrag zum STS, dem neuen "Space Transportation System", zu leisten. Die ESA entwickelte und baute Spacelab und wurde so Mitspieler auf dem Feld der bemannten . Ich glaube aber nicht, dass sich der ESA-Rat für Spacelab entschieden hatte, um damit in östliche Richtung ein politisches Signal zu senden.

Da die Bundesrepublik nur eines von damals elf Mitgliedsländern war, ist zumindest sicher, dass es für die deutsche Regierung kein gangbarer Weg war, der DDR zu zeigen, was eine Harke ist. Und was mich angeht, so wurde ich nicht von der Politik ins Rennen geschickt, sondern ich wurde von den beteiligten Wissenschaftlern aus allen ESA-Mitgliedsländern, Japan, Canada und USA ausgewählt. Mein Kollege und heutiger Freund Sigmund Jähn wurde zumindest nach seinem Flug anders als ich eingesetzt.

Nach seinem Flug wurde er im Land herumgeschickt, Schulen, Straßen und Schiffe wurden nach ihm benannt. Er diente als lebender Beweis, dass der Sozialismus besser ist als alles andere. Sigmund kam aus dem Militär, ich aus der Wissenschaft. Das ist für mein Selbstverständnis eine ganz wichtige Differenzierung. Jemand aus dem Militär dient ja seinem Staat, aber jemand, der aus der Wissenschaft kommt, ist darauf getrimmt, erst mal nichts zu glauben und die Wahrheit herauszufinden. Ich bin völlig politikfremd in diese Mission gekommen.

Stellenanzeige in der Zeitung gesehen

Sie kommen als Wissenschaftler aus der Metallforschung. Was war für Sie denn der Reiz daran, sich als zu bewerben und ins All zu ?

Ich arbeitete am Stuttgarter für Metallforschung und war einer der wenigen mit einer zeitlich unbefristeten Stelle. Somit hätte ich bis zum Ende meiner beruflichen Tätigkeit am Institut bleiben können. Aber als ich Mitte 30 war, dachte ich darüber nach, ob es nicht an der Zeit sei, mir zusätzlich zur Festkörperphysik ein neues Feld der Forschung zu erschließen.

Nur um einmal zu prüfen, welche Optionen es gibt, kaufte ich ein einziges Mal am Stuttgarter Hauptbahnhof die Wochenendausgabe der FAZ. Ich fand eine Anzeige, in der die DFVLR, die Vorläuferin des DLR, im Auftrag der ESA Wissenschaftsastronauten für die erste Spacelab-Mission suchte. Darauf hab ich mich beworben und bin am Ende aus 2.000 Bewerbern ausgewählt worden.

Wie lief dieses Auswahlverfahren ab? Es war ja klar, dass letztendlich nur ein einziger Kandidat würde…

Es ist richtig, dass wir zum Zeitpunkt der Auswahl von nur einem einzigen Flug ausgingen. Dieser war ein Teil der Gegenleistung dafür, dass Europa das Spacelab den Amerikanern zur uneingeschränkten Nutzung überlassen hatte. Das Risiko bei der Auswahl war allen bewusst. Sie erfolgte in zwei Stufen: Jedes Mitgliedsland durfte der ESA fünf Kandidaten präsentieren. Aus den in Deutschland vom DLR vorausgewählten Kandidaten, zu denen unter anderem Ernst Messerschmidt und Reinhard Furrer gehörten, wählte die ESA mich aus.

Psychologische Untersuchung als K.O.-Test

Hinzu kamen in einem zweiten Schritt der Schweizer Claude Nicollier und der Niederländer Wubbo Ockels. Insgesamt zog sich die Auswahl über ein Jahr hin. Sie erfolgte nach dem K.O.-Prinzip. Das DLR führte Sprachtests durch, wissenschaftliche Interviews, medizinische und psychologische Untersuchungen. Nebenbei bemerkt sind an der letztgenannten Hürde die meisten Mitbewerber hängen geblieben.

Im Sommer 1978 begann das Training für die erste Spacelab-Mission. Unser wissenschaftliches Programm war außergewöhnlich spannend. Um die vielseitige Verwendbarkeit des Spacelabs nachzuweisen, hatten ESA und NASA nämlich Experimente aus einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen für den Flug ausgewählt.

Wir beschäftigten uns mit Fragen der Atmosphärenphysik, der Astronomie, der Erdbeobachtung, der Biologie, der Materialforschung, der Medizin, der Plasmaphysik und der Technologie. Selbst wenn ich nicht geflogen wäre, hätte sich das Training für mich gelohnt. Für mich wurde es zu einer singulären Chance, meine Nase in verschiedene wissenschaftliche Arbeiten zu stecken. Bei einem guten stößt das Bekannte an das Unbekannte.

Weil die NASA den ersten Start des Shuttles immer wieder verschob, verzögerte sich auch unsere Mission. Claude Nicollier erhielt von der NASA die Möglichkeit, das Training als "Mission Specialist" zu absolvieren. Deshalb stieg er aus der Spacelab-Mission aus, Wubbo Ockels und ich blieben übrig. Zwischenzeitlich hatte die Bundesrepublik Deutschland beschlossen, eine nationale Mission, die D1-Mission, durchzuführen.

Noch heute bin ich froh, dass Wubbo und mir zugesichert wurde, dass derjenige von uns beiden, der Ersatzmann der Spacelab1-Mission sein werde, auf D1 mitfliegen würde. Zur endgültigen Auswahl, wer als erster zum Zuge käme, bildeten die Wissenschaftler der Spacelab-Mission eine Kommission und stimmten ab, wem sie ihre Experimente anvertrauen wollten. Sie entschieden sich für mich. Wubbo Ockels flog dann im Herbst 1985 auf der D1-Mission mit. Wir kamen also beide ins Weltall.

Wissenschaftler sorgten für Böses Blut bei Berufs-Astronauten

Mittlerweile ist es Normalität, dass Missionen mit einem internationalen Team durchgeführt werden. Sie waren der ersten Nicht-Amerikaner bei einer NASA-Mission. Wie verlief die Zusammenarbeit?

Als Europäer hatte man dort nicht nur Freunde. Manche der amerikanischen Astronauten mussten 20 Jahre warten, bis sie fliegen konnten, und wir kamen und hatten gleich einen Sitz auf einer Mission. Das hat schon böses Blut gegeben. Und auch das Management des Johnson Space Centers hat uns argwöhnisch betrachtet. Wir durften zum Beispiel auch nicht die Turnhalle der Astronauten betreten – die sei für die NASA-Astronauten.

Außer mir nahm die NASA erstmalig auch einen Wissenschaftler aus der amerikanischen Forschung mit. Wir wurden "Payload Specialist" genannt und lösten bei den Berufsastronauten in Wartestellung keine große Freude aus. Sie warteten seit Apollo darauf, mit dem Shuttle-Programm zum Zuge zu kommen. Mein amerikanischer Kollege Byron Lichtenberg und ich waren also in der Situation, dass wir skeptisch beobachtet wurden von denjenigen, die sich in Amerika für die "richtigen" Astronauten hielten. Das war nicht leicht. Unsere Aufgabe bestand darin, die Experimente optimal durchzuführen, dafür zu sorgen, dass jeder Wissenschaftler am Ende der Mission Daten in ausreichender Qualität und Quantität erhalten würde.

Aufregung beim Countdown, und dann Riesenspaß

Sie waren "nur" zehn Tage im Weltall und mussten in dieser Zeit 72 Experimente durchführen. Dafür wurde im Schichtbetrieb rund um die Uhr gearbeitet. Alles musste reibungslos in der für Sie aber ungewohnten Situation ablaufen. Wie geht man mit diesem Druck um?

Ich bin insgesamt drei Mal geflogen. Eine schwierige Phase für mich war jedes Mal der Countdown. Man wird in das Raumschiff gesetzt, wird verkabelt. Es schließt sich die Luke. Dann hat man zwei Stunden auszuharren, bis es am Ende losgeht. Das ist eine Zeit, in der mir auch immer Zweifel im Kopf saßen, ob ich den hochgesteckten Erwartungen der Wissenschaftler gerecht werden würde, die mir ihre Experimente anvertraut hatten. Das ist ja nicht nur ein Haufen Geld, sondern in jedem steckt die jahrelange Arbeit von Leuten. Zeitgleich ist man aber nach jahrelanger Vorbereitung auch froh, dass das Training hinter einem liegt und der Flug endlich bevorsteht.

Das ist eine interessante Gemütslage. Aber sobald Bewegung in die Kiste kommt, dann hat man alle Bedenken vergessen. Mit 3.000 Tonnen Schub unter dem Hintern geht die Reise los. Die Beschleunigung ist eine sinnliche Erfahrung vom allerfeinsten. Nach acht Minuten ist man 250 Kilometer nach oben vorangekommen und hat eine Geschwindigkeit von 27.000 Stundenkilometer erreicht.

Und dann findet man sich in der Schwerelosigkeit wieder, muss sich orientieren und stellt fest, dass man zu wenige Hände hat, um sich festzuhalten und gleichzeitig zu arbeiten. Aber es hat einen Riesenspaß gemacht. Wer im Schichtbetrieb frei hatte, sollte eigentlich acht Stunden schlafen, aber die dienstfreie Zeit haben wir immer genutzt, um aus dem Fenster herauszugucken.

Welches der 72 Experimente fanden Sie für sich selbst am faszinierendsten?

Ich will da gar keine Zensuren verteilen. Aber es gibt natürlich Experimente, da hatten wir Astronauten mehr eine Laborantenfunktion: Beispielsweise haben wir die Öfen mit materialwissenschaftlichen Proben bestückt und dann das jeweilige Computerprogramm gestartet, das den Schmelz- und Erstarrungsprozess steuerte. Das war es dann. Solche Experimente sind natürlich nicht so interessant wie andere, bei denen man den Ablauf selbst steuerte.

Feuer an Bord des Space Shuttles

Medizinische Experimente waren auch etwas Besonderes. Bei ihnen diente einer von uns als Versuchstier, der andere war der sogenannte Operator. Da hatte man natürlich mehr Verantwortung. Bei anderen Experimenten mussten wir auch improvisieren. Beispielsweise klemmte bei der sogenannten metrischen Kamera des DLR, die verzerrungsfreie Bilder von der Erde machen sollte, eines von mehreren Filmmagazinen. Auch bei der Rückkehr lief nicht alles reibungslos – es gab einen Computerausfall und beim Landeanflug im Inneren des Shuttles sogar auch ein Feuer.

In den vielen Simulationen wurden meine Mitflieger und ich vor dem Flug mit allen möglichen Notfällen konfrontiert. Es zeigte sich, dass wir immer eine Lösung finden konnten. Deshalb stieg ich mit Zuversicht und Vertrauen in die Fähigkeiten meiner Mitflieger in das Raumschiff ein, und wie sich herausstellte, wurden wir auch mit den Schwierigkeiten im realen Flug fertig.

Weiter hinaus ins Unbekannte

Welche Mission würden Sie sich denn für die Zukunft wünschen?

Ich komme ja aus der Wissenschaft: Deshalb möchte ich erleben, dass wir die Internationale Raumstation über die nächsten zehn, 15 Jahre als Labor richtig nutzen. Langfristig sehe ich uns heute Lebenden herausgefordert, das fortzuführen, was unsere Altvorderen mit ihren Schiffen vollbracht haben. Das kann nur heißen, dass irgendwann die Erkundung unseres Planetensystems gestartet wird und Menschen zum fliegen werden.

Ich weiß, dass unser heutiges Weltbild nicht nur in Universitäten erarbeitet wurde, sondern vieles, was wir heute wissen, von Leuten stammt, die dorthin gingen, wo vorher noch niemand war. Columbus, Marco Polo, Livingstone, die Polarforscher. Warum sollten wir heute stehenbleiben und nicht fortsetzen, was sie begannen?

Das Interview führte Manuela Braun.