Mit Mark und Scott Kelly gibt es nun zum ersten Mal ein menschliches Bodenreferenzmodell für eine Raumfahrtmission: Die beiden sind eineiige Zwillinge und während Scott am 27. März 2015 um 20:42 Uhr mitteleuropäischer Zeit für ein Jahr zur Internationalen Raumstation ISS reist, bleibt sein Bruder Mark auf dem Boden und dient als Vergleichsobjekt.
Referenzmodelle sind extrem wichtig. Wenn Lander wie Philae ins All fliegen oder Instrumente wie der „Maulwurf“ HP3 für die Reise zum Mars vorbereitet werden, gibt es immer ein Bodenreferenzmodell. Ein Modell, mit dem die Wissenschaftler auf der Erde Tests durchführen können oder Vergleichsmessungen. Mit den Zwillingen gibt es dieses Modell nun auch in Menschlicher Form.
Vorbereitung für bemannten Flug zum Mars
„Zum ersten Mal kann so auch untersucht werden, ob sich durch den langen Aufenthalt im All auch die Gene eines Menschen ändern“, sagt Prof. Rupert Gerzer vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Und auch die Auswirkungen unter anderem auf Kreislauf, Knochen, Muskeln und Augen sind bei Langzeitmissionen noch nicht ausreichend erforscht. „Die Ein-Jahres-Mission ist natürlich auch eine Vorbereitung für einen bemannten Flug zum Mars.“
Scott Kelly ist kein Neuling im All: Der 51-Jährige ist bereits drei Mal und für insgesamt mehr als 180 Tage ins All geflogen. Er installierte neue Instrumente am Hubble-Weltraumteleskop, flog mit dem Space Shuttle Endeavour und verbrachte ab Oktober 2010 als Kommandant 159 Tage in der Internationalen Raumstation ISS. Jetzt verabschiedet er sich allerdings für ein ganzes Jahr von der Erde.
Vor ihm taten dies bereits mehrere russische Astronauten: Waleri Poljakow blieb 437 Tage in der Schwerelosigkeit, Sergei Awdejew verbrachte 379 Tage in der MIR-Raumstation. Doch nun stehen mehrere Premieren an – zum ersten Mal lebt und arbeitet ein Astronaut für solch einen langen Zeitraum auf der Internationalen Raumstation, zum ersten Mal verbringt ein amerikanischer NASA–Astronaut ein Jahr im All und zum ersten Mal gibt es einen Zwilling, der genetisch nahezu identisch ausgestattet ist.
Mark Kelly ist selbst Astronaut, flog bereits vier Mal ins All und brachte unter anderem mit dem letzten Shuttle-Flug das Alpha Magnetic Spectrometer (AMS) zur ISS. Auch ein russischer Kosmonaut, Mikhail Kornienko, wird gemeinsam mit Scott Kelly ein komplettes Jahr in der Internationalen Raumstation leben und forschen.
Fingerabdruck der Raumfahrt im Genom
„Aber mit Scott und Mark Kelly beginnt der Einstieg in die Forschung an genetischen Merkmalen“, sagt Prof. Rupert Gerzer, Leiter des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin. „Die Wissenschaft sucht hier sozusagen nach dem genetischen Fingerabdruck der Raumfahrt.“ Zusätzlich zu den mehreren hundert ISS-Experimenten hat die NASA insgesamt zehn Experimente ausgewählt, die sich ausschließlich mit dem Vergleich der beiden Zwillingsbrüder beschäftigen. Veränderungen in verschiedenen Organen und in den Genomen der Zellen durch Faktoren wie Strahlung, Isolation und Schwerelosigkeit sowie Auswirkungen auf die Wahrnehmung oder das Treffen von Entscheidungen sollen unter anderem an den Astronauten-Zwillingen erforscht werden.
„Der Aufenthalt im All hat insgesamt Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System, das Immunsystem wird geschwächt, Muskeln und Knochen bauen ab“, zählt DLR-Raumfahrtmediziner Rupert Gerzer auf. Das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin erforscht unter anderem diese Auswirkungen. „Fast Zweidrittel der Astronauten entwickeln in der Schwerelosigkeit Sehstörungen.“ Die Ursache könnte eine Erhöhung des Hirndrucks sein, „doch das ist noch nicht erforscht.“ Die Internationale Raumstation befindet sich in rund 400 Kilometern Höhe, jederzeit kann ein erkrankter Astronaut im Notfall zur Erde zurückkehren, bei einem mehr als 200 Tage langen Flug zum Mars ist die schnelle Rückkehr ausgeschlossen: „Bei Langzeitmissionen dürfen Probleme beispielsweise mit dem Augen- und Hirndruck gar nicht erst auftreten.“
Trainingsprogramm bewahrt Astronauten
Bisher weiß man: Nach den mittlerweile üblichen sechs Monaten Aufenthalt in der Schwerelosigkeit regeneriert sich der menschliche Körper nach der Rückkehr zur Erde wieder, entsprechende Gegenmaßnahmen wie Lauftraining in der ISS können größere Schäden vermeiden. „Das Trainingsprogramm ist mittlerweile sehr gut, die Astronauten kehren recht fit zurück und erholen sich innerhalb von wenigen Tagen.“
Auch die Schädigung durch die kosmische Strahlung – pro Tag sind die Astronauten im All etwa einer irdischen Jahres-Dosis ausgesetzt – repariert der Körper mit der Zeit. Wie es bei einem Aufenthalt von einem Jahr aussieht und wie die Gene auf die Umweltbedingungen im All reagieren, ist kaum bekannt. „Eine der Herausforderungen in den nächsten Jahren wird es sein, Fitnessgeräte so zu konstruieren, dass sie bei kleinerem Umfang in Raumschiffe passen und dennoch denselben Trainingseffekt haben.“ Die Gegenmaßnahmen müssen aber nicht nur bei kürzeren Trainingszeiten gut funktionieren, sondern auch Spaß machen, ist sich Gerzer sicher. „Sonst ist die Motivation zum Training zu gering.“
Mit Scott und Mark Kelly wird zwar die Datenbasis für detaillierte Erkenntnisse sehr gering sein, dennoch wird die Mission es ermöglichen, Hinweise zu erhalten und Tendenzen festzustellen. Für Astronaut Scott Kelly kommt aber neben den wissenschaftlichen Experimenten noch eine weitere Aufgabe zu: „Egal wie spannend alles ist und wie schön die Erde aussieht, man ist für ein ganzes Jahr in der Raumstation – da geht es dann auch darum, über einen so langen Zeitraum engagiert und interessiert zu bleiben“, sagt Kelly.