Bis zu 2000 Schwingungen in der Sekunde auf dem Schütteltisch und zwei Umdrehungen in der Sekunde auf dem Spin-Tisch – solche Tests hatte der Flugkörper Shefex II (Sharp Edge Flight Experiment) zu überstehen. Bei diesen Tests wurden zum letzten Mal die Bedingungen simuliert, denen das Raumfahrzeug während des Starts im Sommer 2012 ausgesetzt sein wird. Mit Shefex erforschen die Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Luft– und Raumfahrt (DLR), wie ein Raumfahrzeug nach einem Flug ins Weltall möglichst sicher und kostengünstig wieder in die Erdatmosphäre eintreten kann.
Scharfkantig, ausgerüstet mit zahlreichen Experimenten, einer Kamera und Sensoren für Druck, Temperatur und Wärmefluss sowie Antennen – so wird der Shefex-Flugkörper von der Rocket Range auf der norwegischen Insel Andoya bis in 250 Kilometer Höhe geschossen und anschließend mit elffacher Schallgeschwindigkeit wieder in die Atmosphäre eintreten. "Wir betreten mit der Mission technologisches Neuland", betont Projektleiter Hendrik Weihs vom DLR-Institut für Bauweisen- und Konstruktionsforschung. Das Raumfahrzeug muss Temperaturen von über 2000 Grad Celsius aushalten, wenn es nach seinem Flug wieder durch die Atmosphäre zur Erde zurückkehrt und in der Nähe von Spitzbergen am Fallschirm landet.
Flugkörper mit Ecken und Kanten
Ungewöhnlich ist vor allem die Form des Flugexperiments: Während herkömmliche Flugkörper oft abgerundete Formen haben, setzt Shefex II auf Kanten und Ecken. "Die kantige Form hat den Vorteil, daß das Thermalschutzsystem deutlich billiger herzustellen ist. Die scharfe Anlaufkante verbessert zudem die aerodynamischen Eigenschaften", erläutert Projektleiter Weihs. Der Flugkörper besteht dabei aus einzelnen glatten Facetten, die einfacher und somit kostengünstiger hergestellt werden können als beispielsweise die individuell geformten Kacheln eines Space Shuttles.
Mit dem Raumfahrzeug testen die Wissenschaftler während des 45-sekündigen Wiedereintritts in die Atmosphäre auch verschiedene Hitzeschutzsysteme. Beteiligt an der Shefex II-Mission sind gleich sechs DLR-Institute und Einrichtungen: das Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik, das Institut für Bauweisen- und Konstruktionsforschung, das Institut für Flugsystemtechnik, das Institut für Werkstoffforschung, das Institut für Raumfahrtsysteme sowie die Mobile Raketenbasis Moraba.
Schütteln und Drehen mit Hochgeschwindigkeit
Mit den Tests im Umweltlabor von Astrium in Ottobrunn stellten die Wissenschaftler sicher, dass der Flugkörper die Belastungen des Starts und des anschließenden Flugs ohne Probleme absolvieren wird. "Um sich während des Flugs zu stabilisieren, muss sich die Rakete kontinuierlich drehen", erläutert John Turner, verantwortlich für den Einsatz der Mobilen Raketenstation Moraba des DLR, von der aus Shefex von der norwegischen Raketenstation ins Weltall starten wird.
Ähnlich der Auswuchtung eines Autoreifens balancierten die Ingenieure den Flugkörper für diese Drehungen aus. Außerdem gehörte die Prüfung auf dem Schütteltisch zu den abschließenden mechanischen Tests. In den ersten Sekunden des Starts wird die Nutzlast durch die Erschütterungen auf eine harte Probe gestellt – der Schütteltisch ahmte diese Situation nach. "Nach jedem Test überprüften wir, ob alles noch präzise funktioniert."
Forschung an Wiedereintrittstechnologien – Tagelange Schwerelosigkeit
Bei der Shefex II-Mission greifen die Wissenschaftler auf ihre Erfahrungen mit dem Flugkörper Shefex I zurück, der am 27. Oktober 2005 von Andoya aus startete. Das Nachfolgermodell Shefex II fliegt allerdings mit doppelter Fluggeschwindigkeit, kann über Steuerelemente beim Wiedereintritt erstmals aktiv gesteuert werden und bietet eine Verdoppelung der Experimentierzeit. Planungen für eine dritte Shefex-Mission sind schon begonnen. Ziel der Missionen ist es, Erkenntnisse für eine neue Art von Wiedereintrittskörper zu sammeln, die nach einer Experimentierphase in der Schwerelosigkeit wieder unbeschadet, und damit wiederverwendbar, zur Erde zurückkehren.
Als ein erstes Anwendungsbeispiel wird der REX-Free Flyer (Returnable Experiments in Space) untersucht. Dieser scharfkantige Raumgleiter könnte ab 2020 die Möglichkeit bieten, Experimente in die Schwerelosigkeit zu fliegen, dort einige Tage zu bleiben und anschließend wieder auf einem normalen Flughafen zu landen. "Damit würde sich die Lücke schließen zwischen minutenlanger Schwerelosigkeit bei den TEXUS-Flügen des DLR und der ständigen Schwerelosigkeit an Bord der Internationalen Raumstation ISS", betont Shefex-Projektleiter Weihs.