In der Schwerelosigkeit bauen Muskeln und Knochen ab – und auch die Sehkraft lässt nach, vielleicht zusätzlich die Gehirnleistung. Welche Konsequenzen hat das für zukünftige bemannte Missionen zum Mond oder zum Mars? Und wie können die Astronautinnen und Astronauten, die jahrelang im All unterwegs sind, die zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen aufhalten? Das untersucht die neue Bettruhestudie im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. Für die Studie im Auftrag der NASA werden noch Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesucht, die jede Menge wissenschaftliche Tests durchführen und 30 Tage am Stück im Bett verbringen – aber anstrengend wird es trotzdem.
Schwerelosigkeit verändert den Körper
„Durch den Wegfall der Schwerkraft verschieben sich die Körperflüssigkeiten in Richtung Kopf und rufen unter anderem Veränderungen an den Augen und im Gehirn hervor“, erklärt Andrea Nitsche vom Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin im DLR. „Das Ziel der Studie ist es, geeignete Maßnahmen zu entwickeln, um diesen Problemen entgegenzuwirken.“ Die Bedingungen in der Schwerelosigkeit lassen sich auf der Erde besonders gut im Liegen nachempfinden, wenn sich die Flüssigkeiten im Körper gleichmäßig verteilen. Um einen Effekt wie im All zu erzeugen, wird das Bett zusätzlich um sechs Grad geneigt: Die Beine liegen also höher als der Kopf. So werden die Teilnehmer einen ganzen Monat verbringen, dabei dürfen sie jedoch jederzeit zwischen Bauch-, Rücken- und Seitenlage wechseln. Wichtigste Regel: immer eine Schulter auf der Matratze lassen. Die Studie dauert insgesamt 59 Tage am Stück: 15 Tage Eingewöhnung, 30 Tage Bettruhe und 14 Tage Erholung mit „Astronauten-Reha“. In der Zeit werden die Probanden wieder fit für den Alltag gemacht. Die Studie startet mit der ersten Kampagne im April 2021, eine zweite Kampagne wird im September 2021 durchgeführt.
Festgelegter Tagesablauf und eine angepasste Ernährung
Mit „Ruhe“ im eigentlichen Sinn hat diese Studie allerdings nicht viel zu tun: Der Tagesablauf ist durchgetaktet. Manchmal beginnen schon um 7 Uhr medizinische Untersuchungen oder wissenschaftliche Tests, bisweilen enden sie erst nach 22 Uhr. Es wird ein strenger Tag-Nacht-Rhythmus eingehalten, Mittagsschlaf ist nicht erlaubt, die Mahlzeiten müssen aufgegessen werden und es gibt auch nur das, was auf den Teller kommt: „Die Teilnehmer bekommen eine individuell angepasste Ernährung, die dafür sorgt, dass sie ihr Gewicht halten“, sagte Andrea Nitsche. Auch die Getränkemenge ist strikt reglementiert.
„Die Teilnahme ist keine Kleinigkeit, sondern eine echte Herausforderung“, betont Edwin Mulder, Projektleiter der SANS-Bettruhestudie (Spaceflight-Associated Neuro-Ocular Syndrome Countermeasures Study). „Aber es ist natürlich auch etwas Außergewöhnliches, bei einem Projekt mitzumachen, das so wichtig für die Raumfahrt ist. Unsere Probandinnen und Probanden sind Teil eines speziellen kleinen Clubs, der ‚terrestrischen Astronauten‘!“ Am Ende haben die Probanden neben einer Aufwandsentschädigung auf jeden Fall die Gewissheit, dass sie die Forschung vorangebracht haben. Astronautinnen und Astronauten trainieren täglich im All, um den Muskelschwund und das Absacken des Herz-Kreislauf-Systems einzudämmen. Aber was kann dagegen getan werden, dass sie schlechter sehen? Genau genommen werden sie durch die Ansammlung von Flüssigkeit am Auge weitsichtig. Das heißt, sie bekommen Schwierigkeiten, in der Nähe scharf zu sehen. „Wir wollen herausfinden, ob und wie wir das in den Griff kriegen“, sagt Edwin Mulder.
Unterdruck-Experiment verteilt die Flüssigkeiten im Körper
Eine Methode, um die Körperflüssigkeit wieder in die untere Körperhälfte zu verschieben, sind hunderte Runden in einer Zentrifuge. Durch die Fliehkräfte wird der Körper einer künstlichen Schwerkraft ausgesetzt – ein Versuch aus einer früheren Bettruhestudie. Für ein enges Raumschiff und seinen jahrelangen Weg etwa zum Mars kommt eine Zentrifuge derzeit noch nicht infrage. Aber möglicherweise kann ein Unterdruckzylinder für einen ähnlichen Effekt sorgen. Deswegen liegen einige Teilnehmer zweimal täglich drei Stunden von der Hüfte abwärts unter einer Plexiglas-Haube, in der ein Unterdruck erzeugt wird. Damit wird eine frühe Raumfahrt-Idee wieder aufgegriffen: Unterdruck-Experimente gab es schon in den 1970er Jahren auf einer Raumstation. Die Kontrollgruppe der aktuellen Studie sitzt zweimal täglich drei Stunden aufrecht auf einem Stuhl. So soll ermittelt werden, ob die vergleichsweise kurzzeitige aufrechte Position und das Unterdruck-Experiment zu ähnlichen Ergebnissen führen.
Bewerbungen für die erste Kampagne der SANS-Studie sind noch bis Mitte Dezember möglich. Für die beiden Kampagnen werden insgesamt 24 gesunde Probanden (zwölf Männer und zwölf Frauen) gesucht. Sie sollten zwischen 24 und 55 Jahren alt, zwischen 1,53 und 1,90 Meter groß und Nichtraucher sein. Zum Auswahlverfahren gehören unter anderem die Teilnahme an einer Online-Informationsveranstaltung, ein psychologisches Interview und eine medizinische Voruntersuchung.
Gespräche mit einem Astronauten
Besondere Voraussetzungen müssen die Probanden nicht erfüllen, außer: „Es ist uns wichtig, dass sich die Teilnehmer für die Raumfahrt interessieren und ihnen klar ist, um was es hier geht“, sagt Edwin Mulder. Während der Studie sind alle in Einzelzimmern untergebracht, aber gänzlich isoliert sind sie nicht: Auch in Kopftieflage besteht für sie die Möglichkeit, sich in der Freizeit mit dem Bett in einen Aufenthaltsraum schieben zu lassen, zum Beispiel zum Fernsehen, Essen oder Reden. Zwischendurch kommt auch mal ein Astronaut zu Besuch – zum gemeinsamen Erfahrungsaustausch über die Schwerelosigkeit.