Fliegendes Klassenzimmer Raumstation ISS: Warum Papierflieger nicht abstürzen

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Nach 100 Tagen im All ist der Schwebezustand für ESA-Astronaut Alexander Gerst schon Normalität geworden. Allerdings: In der Welt der laufen selbst einfache Experimente anders ab als auf der . "Flying Classroom" nennt sich dabei eine -Reihe, die das Deutsche Zentrum für – und (DLR) im Team mit der ESA entwickelt hat.

Papierflieger bleiben in der Internationalen Raumstation ISS nach ihrem Flug scheinbar müde in der hängen, Luftblasen im Wasser bleiben viel länger stabil als auf der Erde, und ein rotierender Kreisel zeigt deutlich, wie die Raumstation auf ihrer Bahn um die Erde fällt. "Diese Experimente sind ganz dicht an dem, was jeder auf der Erde wiederholen kann – nur mit einem ganz anderen Ergebnis als in der Schwerelosigkeit", sagt Projektleiter Dr. Matthias Sperl vom DLR. Das Zubehör ist überschaubar: Mal ist es ein Blatt Papier, mit dem Alexander Gerst experimentiert, mal benötigt er einen Alubeutel Trinkwasser. "Das sind alles Gegenstände aus dem Alltag", betont DLR-Materialphysiker Sperl.

Die Vorbereitungszeit für die Experimentreihe hat dennoch fast ein Jahr gedauert, denn auf der ISS geschieht nichts ohne konkrete und ganz exakte Planung. Das Papier muss im rechten Augenblick zur Verfügung stehen, der Kreisel vorhanden sein und auch die Sicherheitsdokumente müssen wie für jedes der zahlreichen Experimente ausgefüllt werden. Nicht zuletzt muss auch die Durchführung der Experimente in den eng getakteten Zeitplan des Astronauten eingeplant werden.

ISS dreht sich bei Erdumrundung um den Kreisel

"Wir betreten wissenschaftliches Neuland", sagt Astronaut Alexander Gerst. Das macht er mit einem Kreisel, der zeigen soll, wie die ISS auf ihrer Flugbahn um die Erde etwa vier Grad pro Minute nach vorne kippt. Gerst versetzt dazu den Kreisel in Rotation und stabilisiert ihn so. Statt in der ziellos zu taumeln, behält der Kreisel seine Ausrichtung bei. "Wenn man ihn jetzt kippen will, wird er störrisch – er mag nicht", sagt Gerst.

Und auch während die ISS innerhalb von 90 Minuten einmal um die Erde kreist, bleibt der Kreisel beständig. Allerdings: Da die Raumstation eigentlich um den hartnäckigen, rotierenden Kreisel fällt, sieht es in dem Video aus der ISS so aus, als ob der Kreisel kippt. "Aus unserer Sicht sieht es zwar so aus, als ob der Kreisel nach hinten kippt, aber in Wirklichkeit kippt die Raumstation nach vorne."

Mit einem einfachen Kreisel und einer einfachen Versuchsanordnung hat der Astronaut somit bewiesen, dass das Raumschiff seine eigene Bahnbewegung hat – auch wenn alles in einem einheitlichen Schwebezustand zu sein scheint. DLR-Projektleiter Matthias Sperl ist mehr als zufrieden mit dem Verlauf des Experiments: "Es ist bombastisch, dass man die Flugbahn und das Kippen der ISS mit einem Kreisel so messen kann – das hat bisher noch niemand so gemacht."

Kein Absturz für Papierflieger im All

Auch ein simples Blatt Papier kann in der ISS zum werden – wenn es denn richtig gefaltet wird. "Mit einem Papierflieger kann man sehr gut zeigen, dass Schwerelosigkeit und Vakuum verschiedene Dinge sind", betont Matthias Sperl. Auch wenn alles schwebt im Inneren der ISS, so herrscht natürlich kein Vakuum. Der gefaltete – "mein erster Weltraumflieger", sagt Alexander Gerst – verhält sich deshalb auch im Flug wie auf der Erde: Die Reibung mit der Luft bremst ihn aus.

Nur: Sobald die Bewegungsenergie versiegt, bleibt der Papierflieger in der Luft stehen und lässt sich nur von den Luftströmungen der ISS-Belüftung leicht hin und her bewegen. Für Matthias Sperl vom DLR ein deutlicher Beleg: "Wenn Luft vorhanden ist, gelten auch immer die Regeln der Aerodynamik", erläutert er. "Aber weil keine Kraft zum Boden zieht, bleibt der in der Luft stehen." Bei einem Flugexperiment außerhalb der Raumstation, würde nur noch die Restatmosphäre den Papierflieger im Laufe einer sehr langen Zeit abbremsen – "und er würde wohl nach einigen Jahren in der Atmosphäre verglühen".

Schaum aus Blasen, die nicht platzen

Das dritte Experiment im "Flying Classroom" hat einen engen Bezug zur aktuellen Forschung. Erst vor kurzem hat er ein Experimend auf der Raumstation zur Überlebensfähigkeit von Seifenblasen in der Schwerelosigkeit durchgeführt. Doch nun füllt Alexander Gerst eine Spritze mit Wasser und lässt ein wenig Raum für Luft. Mit ein wenig Schütteln entsteht so ein recht stabiler Schaum aus Wasser und Luft. "Auf der Erde würden die Luftblasen durch den Auftrieb aufsteigen, miteinander in Kontakt kommen und platzen", erklärt Dr. Matthias Sperl vom DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum. "Die Schwerelosigkeit ändert dies komplett: Dort bleiben die Luftblasen, wo sie entstanden sind und platzen nicht." Zurzeit planen die Wissenschaftler ein Experiment für die ISS, die dies ganz genau untersucht.

Dabei soll bei Schäumen unterschiedlicher Zusammensetzung beobachtet werden, wann sie zerfallen und wie sie sich dynamisch verhalten. "Wenn wir diese Mechanismen besser verstehen, können wir dieses Wissen auch bei der Anwendung von Schäumen in der Industrie einbringen." Für Astronaut Alexander Gerst sind diese Experimente auch noch nach 100 Tagen Leben und Forschen in der Schwerelosigkeit spannend: "Ich bin immer wieder erstaunt bei ganz kleinen Effekten, die man erst nach einer Weile realisiert und die ganz anders sind, als wir sie von der Erde gewohnt sind", sagt er. "Genau diese Dinge machen wir uns hier oben im Columbus-Raumlabor zunutze".

Videobilder: Copyright DLR / ESA.