Gerade einmal 60 Zentimeter groß ist das Zielfeld an der Internationalen Raumstation ISS, an dem der letzte europäische Raumtransporter ATV-5 "George Lemaître" am 12. August 2014 um 15:30 Uhr MESZ punktgenau automatisch andockte. Bei dem Manöver in 400 Kilometern Höhe hatte Astronaut Alexander Gerst deshalb auch nur eine Aufgabe: das Andockmanöver zu überwachen und im Notfall das automatische Verfahren abzubrechen.
Im Inneren des 20-Tonners warten unter anderem dichtgepackt Experimente wie der Schmelzofen EML (Elektromagnetischer Levitator), das DLR-Magnetfeldexperiment MagVector/MFX, Nahrung, Kaffee und Kleidung für die Astronauten, Treibstoff, Atemluft und Trinkwasser sowie eine Ersatz-Pumpe für das Wasseraufbereitungssystem des Forschungslabors Columbus.
Insgesamt transportierte das ATV mehr als 6,6 Tonnen Fracht ins All. Für die Teams in den Kontrollräumen im Deutschen Zentrum für Luft– und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen und Köln beginnt nun die ausgeklügelte Prozedur des Entladens.
Annäherung an Raumstation mit Funk, Radar und Infrarot
Zwei Wochen dauerte die Freiflugphase des ATV-5 (Automated Transfer Vehicle) "Georges Lemaître" nach dem Start am 30. Juli 2014 um 01:44 Uhr – nun dockte der Transporter nach einer rund dreieinhalbstündigen Annäherungsphase am russischen Zwesda-Modul der Internationalen Raumstation an. Rund 40 Kilometer vor Erreichen der ISS wurde dafür die Kommunikation zwischen Raumstation und Transporter aufgenommen. 3,5 Kilometer vor der ISS wurde das Radar aktiviert, auf den letzten 250 Metern orientierte sich ATV-5 mit optischen Sensoren (je zwei Laser-Entfernungsmesser und Videokameras), die ihm als Augen dienen und die Berechnung von Abstand, Geschwindigkeit und Winkel zum Koppelungselement ermöglichen.
Zuvor hatte die europäische Raumfahrtagentur ESA das neue System LIRIS (Laser InfraRed Imaging Sensors) getestet, das zusätzlich zum bestehenden Navigationssystem im Einsatz war. Mit der neuen Technologie könnten dann auch so genannte unkooperative Ziele – beispielsweise Weltraumschrott – angeflogen werden. Beim LIRIS-Experiment wird die ISS per Laser angestrahlt, um aus der Reflexion ein auswertbares Bild mit möglichst vielen Informationen zu Lage und Orientierung des Ziels zu bekommen.
"Bei unkooperativen Zielen benötigt man einfach noch mehr Intelligenz bei Sensoren und Regelkreisen", sagt Volker Schmid, DLR-Programm-Manager für das ATV. "Letztendlich testen wir damit, auch im Dunklen einen Gegenstand genau an der richtigen Stelle präzise greifen zu können." Für das Andocken mit dem ATV trug die ISS speziell angebrachte Laserreflektoren an ihrer Außenseite.
Öffnung der Verbindungstür und Entladung genau geplant
Nach der Ankunft des ATV wird nun – voraussichtlich am 13. August – nach einem ersten Öffnen der Verbindungstür die Luft im Transporter selbst auf ihre Qualität geprüft und die Verbindung zwischen ATV und ISS zusätzlich verstärkt. Die ersten großen Frachtpakete, die Teile des Schmelzofens EML enthalten, werden dann wahrscheinlich am folgenden Tag von Astronaut Alexander Gerst und seinen Kollegen aus dem ATV geladen und durch die Station an seinen Bestimmungsort, das europäische Forschungslabor Columbus, gebracht. Das EML ist mit rund 400 Kilogramm verteilt auf mehrere Frachtstücke das schwerste Gut im Transporter.
Eine kurze Pause beim Entladen des ATV wird für das Abdocken des Cygnus Orbital-2 eingeschoben – dann bedient Alexander Gerst den Roboterarm, mit dem der Transporter von der ISS getrennt wird. Und auch beim russischen Weltraumausstieg am 18. August, bei dem die EXPOSE-R2-Anlage an der Außenseite der ISS unter anderem mit Organismen für die Experimente BIOMEX und BOSS des DLR bestückt wird, ist die Verbindungsklappe zwischen ATV und ISS geschlossen. Die Installation des Schmelzofens wird dann ab dem 19. August fortgesetzt und aus dem Kontrollraum des Nutzerzentrums für Weltraumexperimente (MUSC) in Köln betreut und gesteuert. Die genaue Abstimmung dieser Abläufe ist dabei vor allem für die Zeitpläne der Astronauten wichtig, die im Fünf-Minuten-Takt die verschiedenen Aufgaben und Prozeduren vorgeben.
ATV-5: Abschied von Prestigeprojekt – nicht für immer
Mit dem ATV-5 hat zum letzten Mal ein europäischer Raumtransporter an der ISS angedockt. Mit dem ATV-Programm starteten seit 2008 insgesamt fünf Transporter ins All, die nicht nur für Nachschub auf der ISS sorgten und bei ihrer Rückkehr in die Erdatmosphäre den Müll der Raumstation entsorgen. "Das ATV war auch immer sehr wichtig für Ausweichmanöver bei Weltraumschrott und bei der Bahnanhebung der ISS", sagt DLR-Programm-Manager Volker Schmid.
Täglich verliert die ISS etwa 50 bis 100 Metern an Höhe – mit den Raumtransportern wurde sie mehrfach jeweils um einige Kilometer angehoben. Den Rekord hält hier ATV-2 "Johannes Kepler", das die ISS im Jahr 2011 nach um nach insgesamt 50 Kilometer angehoben hatte. Rund sechs Monate wird "Georges Lemaître" an der ISS angedockt bleiben – um dann anschließend bei seiner Rückkehr zur Erde auseinanderzubrechen und zu verglühen. Dies soll erstmals von installierten Kameras gefilmt werden.
Orion-Kapsel statt ATV-6 – Mond-Umrundung 2017
"Dem ATV-5 wird leider kein ATV-6 mehr folgen", bedauert DLR-Programm-Manager Volker Schmid, der das ATV-Programm seit seinem Beginn mit ATV-1 begleitet hat. "Allerdings: die Erfahrungen, die wir mit ATV erworben haben, werden in die Entwicklung eines europäischen Servicemoduls für die amerikanische Orion-Kapsel einfließen – und damit ist Europa an den bemannten Missionen der Zukunft beteiligt." Das "European Service Module" (ESM) wird unter anderem für den Antrieb, die Energieversorgung und Thermalkontrolle sorgen, wenn an Bord der Orion-Kapsel vier Astronauten leben und arbeiten. Das erste ESM an einer Orion-Kapsel soll bei einer unbemannten Test-Mission Ende 2017 bei einem Flug um den Mond zum Einsatz kommen. "Aus der Technologie des ATV entsteht somit die Technologie für Missionen über die Internationale Raumstation hinaus."